Der kleine Frieden

Es ist der 24. Dezember im Jahr 1914: Mit jedem Tag kriecht die Kälte etwas weiter in den Soldaten hoch, bemächtigt sich ihrer ausgelaugten Körper und macht es ihnen nahezu unmöglich, die Intensität der Kämpfe aufrechtzuerhalten. Man versprach ihnen, an Weihnachten werden sie wieder bei ihren Familien sein – zu Hause in Großbritannien oder Deutschland. Mittlerweile ist es Heilig Abend und noch immer stecken französische, belgische, britische wie auch deutsche Soldaten in den nasskalten Schützengräben an der Westfront. Nachdem sie fünf Tage zuvor in einer Großoffensive, die zum heftigsten Gefecht des gesamten Krieges wurde, tausende Kameraden verloren haben, ist ihre Motivation nun auf dem Tiefpunkt angelangt, ihre Moral ist gebrochen.

Plötzlich dringen ungewohnte aber dennoch vertraute Geräusche aus den deutschen Schützengräben – die Briten horchen auf. Langsam, ganz langsam heben sie ihre Köpfe aus den Gräben und spähen vorsichtig über das Niemandsland hin zum Feind. „Stille Nacht, heilige Nacht“ klingt es zaghaft durch die Dunkelheit. Eine Kriegslist der Deutschen? Die Briten sind zunächst skeptisch. Doch dann geschieht das Unglaubliche: Sie singen mit. „Silent Night, Holy Night“ tönt es nun auch aus den britischen Gräben.

Damals war der Brauch, einen Tannenbaum mit Kerzen und Kugeln zu schmücken, außerhalb Deutschlands noch weitgehend unbekannt. Und doch erkennen die Briten den geschmückten Baum als Symbol des Friedens und legen ihre Waffen aus den Händen. Als die Deutschen ihnen zuwinken, sind auch alle restlichen Zweifel beseitigt. Beide Fronten verlassen ihre schützenden Lager, gehen aufeinander zu und reichen sich die Hände.

Am 24. Dezember 1914 hielt der Erste Weltkrieg für ein paar Tage den Atem an: Entlang der Westfront legen Alliierte und deutsche Soldaten ihre Waffen zur Seite und reichen sich zum Fest des Friedens die Hände. Ein Akt der Menschlichkeit, der auch nach mehr als 100 Jahren unvergessen bleibt.

Weinachten im Jahr 2016 stellt uns die Frage, ob wir unsere Feindbilder durch neue ersetzt, sie der Zeit angepasst haben?

Hautfarbe, Lebensweisen, die Religion, beliebig ließe sich die Aufzählung erweitern, um Feindbilder im kleinen wie im großen.

Auch im Jahr 2016 verharren wir in unseren Schützengräben. Sie heißen Wohlstand, Ichbezogenheit, aber auch Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Sie sind die Bollwerke unserer Zeit, die uns materiell aber auch ideell schützen sollen.

Weihnachten 2016 fordert uns heraus, die Schützengräben des Zeitgeistes zu verlassen, auch wenn wir uns bedroht fühlen und diese Bedrohung Angst und Unsicherheit verbreitet, weil wir nicht wissen, was uns im ungeschützten Bereich erwartet. Wie damals können Gemeinsamkeiten, Miteinander und Füreinander über den Schützengräben jedoch nur entstehen, wenn einer sich aus der Deckung traut, um dem anderen die Hand zu reichen

Was seinerzeit der Krieg nicht verhinderte, dass nach Weihnachten alle wieder in ihre Schützengräben zurückkehrten und die Feindbilder wieder aufleben ließen, steht heute in der Bereitschaft und im Willen eines jeden einzelnen.

Brechen wir auf in eine Welt, in der täglich Menschen ihre Schützengräben verlassen, weil sie mutig sind und sich die Hände reichen wollen.

Text zum 24.12.1914 auszugsweise von Corinna Trube

 

 

 

 

 

 

 

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