24-Stunden Lesemarathon feat. Ursula Poznanski
(aha) Die evangelische Kirche ist mit braunen und grünen Decken geschmückt. Von 13 Uhr freitags bis 13 Uhr samstags wird ein Buch komplett vorgelesen werden. Gedämpftes Licht – ca. 30 Jugendliche sitzen auf Stühlen, liegen auf Matratzen oder ISO-Matten eingewickelt unter Decken. Die Geschichte fließt wie ein Film, der „läuft“.
24 Stunden Lesemarathon – eine Idee aus dem Jugendausschuss der Gemeinde. Was für eine Idee! „Wir haben keine vergleichbare Veranstaltung als Inspiration gehabt. Wir kennen nichts Ähnliches.“, sagt Wolfgang Weber vom Kirchenvorstand.
Die Idee ist schon ein bisschen „crazy“. Aber nicht zuletzt dadurch bringt die Idee die gesamte Gemeinde von den KonfirmandInnen, den Konfirmandeneltern, den Teamern, den Kirchenvorstand aber auch den Bürgermeister, den kath. Pfarrer Schmidt, einige Lehrer, Schüler- und Theatergruppen aus ganz Hochheim zusammen.
Es geht ums Vorlesen – eine archaische Form der Unterhaltung – ein direkter Nachfahre vom „Geschichten erzählen am Lagerfeuer“. Das Vorlesen entspannt und regt die Phantasie an. Die Figuren, Handlungen und das Aussehen der Orte entstehen in der eigenen Vorstellung. Es steigert die Fähigkeit, sich in Dinge hineinzuversetzen, die man nicht sehen kann und über Dinge zu sprechen, die nicht da sind.
Aber das gemeinsame Vorlesen eines Buches, Kapitel für Kapitel, für eine Gruppe ZuhörerInnen, quer durch die Nacht, das macht es zu einem „Happening“.
Das ausgewählte Buch heißt „Saeculum,“ ein Thriller von Ursula Poznanski. Als Sahnehäubchen zum Lesemarathon ist die Autorin am Freitagabend anwesend. Sie liest ein bisschen mit ihrer angenehmen warmen Stimme und erzählt ein bisschen von dem Buch und von sich. „Im Herzen bin ich eine 16-Jährige geblieben…im Grunde ändern sich die Emotionen seit der Pubertät gar nicht…, oder vielleicht bin ich ja gar nicht gereift“, sagt sie und erinnert sich: „Ich habe schon immer gerne geschrieben! Allerdings habe ich es nie geschafft die Geschichten zu Ende zu schreiben. Erst mit Ende zwanzig Anfang dreißig ist mir das gelungen.“
Nachdem sie alle Zuhörer in den Bann gezogen hat, läutet sie die Fragerunde ein, die sich als überraschend spannend herausstellt. Insbesondere die Fragen der Jugendlichen klangen, als ob sie vom Feuilleton der FAZ gestellt würden.
Wie gehen Sie bei der Entwicklung der Figuren vor? Gibt es lebende Vorbilder? Ist das autobiografisch? Wo schreiben Sie? Was machen Sie, wenn Sie eine Schreibblockade haben? Wie strukturieren Sie ihren Tagesablauf? Kennen Sie am Anfang des Schreibens das Ende schon? Haben sie ein Vorbild? Wie sind sie auf die Mittelalterrollenspielgruppe in „Saeculum“ gekommen? Was ist die Rolle des Lektorats? Nutzen Sie Testleser?
Die Autorin antwortet kurz aber klar auf jede Frage: „Die Figuren entwickle ich rein aus den Gedanken, alles ist erfunden. Manche Figuren entwickeln sich anders, als ursprünglich angedacht. Bei Manchen dachte ich, die werden Freunde, aber dann hat die Chemie nicht gestimmt.
Geschichten ausdenken und aufschreiben ist voll mein Ding. Mein erstes Buch „Erebos“ handelt ja von einem Computerspiel, da wollte ich einfach mal weg von Technik. Als Setting mal alles ohne Handy und die Hilfen, die wir heute haben. Aber wer legt sein Handy heutzutage schon freiwillig weg? Da bin ich auf die Mittelalterrollenspielgruppe gekommen. Um mehr darüber zu erfahren, bin ich auf Mittelaltermärkten rumgestreift und habe Kollegen die sich damit auskennen befragt. Ein Vorbild in dem Sinne, so möchte ich schreiben, habe ich nicht. Aber J.K. Rowling mit Harry Potter hat gezeigt, dass auch komplizierte Geschichten über einen langen Zeitraum für Jugendliche funktionieren. Das hat mich motiviert.“
Bei den Fragen rund um das Autorenleben, hat sie eine eventuell vorhandene Romantik ganz bodenständig entzaubert: „Ein Buch zu schreiben, dauert ziemlich genau ein halbes Jahr. Der Verlag verlangt von mir zwei Bücher pro Jahr. Ich hüpfe immer zwischen Jugendbuch und Erwachsenenbuch. Ich schreibe im Büro, da habe ich so eine Relaxzone mit Couch. Dort schreibe ich, nicht am Schreibtisch, das ist zu sehr Arbeit. Beim Rumlümmeln fühlt es sich nicht nach Arbeit an. Wenn ich immer nur bei Lust aufs Schreiben schreiben würde, hätte ich noch kein Buch fertig. Ich muss mich selbst zum Schreiben zwingen.“
Ihre Geradlinigkeit ist entwaffnend charmant: „Eintausenddreihundert (1.300) Worte sind mein Niveau pro Tag. Ich arbeite nach Textlänge, nicht nach Zeit. Ja, ich kenne das Ende am Anfang. Ich kenne den Anfang, die Figuren, den Plot und das Ende. Es wäre für mich übel einfach los zu schreiben. Das ist sogar eine Angstvorstellung von mir; irgendwo zu stecken und verloren zu sein, nicht ans Ende zu kommen. Es gibt Kollegen, die können das. Ich kann das nicht. Eine richtige Schreibblockade hatte ich noch nicht. Wenn es nicht gut läuft, gibt es immer einen konkreten Grund. Vielleicht stimmt bei mir was nicht, das meine Gedanken einfach woanders sind, oder es stimmt an der Geschichte etwas nicht. Wenn ich das merke, mache ich eine Pause, suche nach dem, was nicht stimmt, entferne die Unstimmigkeit und dann geht es wieder.“
Mein Lektorat hilft mir bei Zeitabläufen, da schaut die Lektorin hin. Auch bei der Logik brauche ich Hilfe, damit alles in sich und der Abfolge stimmig ist.
Testleser habe ich aus Zeitgründen keine mehr, hat mir aber eine Zeit lang sehr geholfen.
Druck, ja, Druck ist am Ende immer da. Manchmal werden die Texte sogar besser unter Druck. Ja, ich schreibe chronologisch. Ich fange bei Seite 1 an und gehe chronologisch vor, damit es passt. Mit 13 war mein Lieblingsbuch „Der Herr der Ringe“.
Nach der Fragerunde las Ursula Poznanski noch ein bisschen im Buch und ging dann zur Autogrammstunde über. Das war schon ihr zweiter Besuch in Hochheim. Hoffentlich kommt sie bald mal wieder. Vielleicht, wenn Sie ihren neuen Jugendroman „Aquila“ vorstellt, der im August raus kommt.
Der Lesemarathon ging danach weiter und spät in der Nacht ging es ins Schlummerlesen über. Für die Ersten, die eingeschlummert waren, wurden die Kapitel morgens wiederholt und diejenigen, die bis zum Schluss dabei waren, konnten noch ein bisschen länger schlummern, bis die Geschichte wieder an die Stelle kam, die Sie noch nicht kannten.
Originalton von Mitgliedern des Jugendausschuss: „Wir waren passend um zwanzig nach zwölf fertig! Das hat gut geklappt. Es hat super viel Spaß gemacht und es war auch in der Nacht eine tolle Stimmung.“