Weihnachtsbesuch eines Engels

Über einer Stadt schwebte der Geist der Weihnacht.

Die Einkaufsstraße bebte unter der Hektik der Menschen auf der Suche nach den letzten Geschenken. Der Weihnachtsmarkt auf dem Hauptplatz zeigte sich als leuchtender, glitzernder Verführer, winkte in den letzten Zügen mit Zimtgeruch und Glühweinduft. Lädt die Suchenden zum kurzen Verschnaufen ein bevor die Jagd nach dem perfekten Geschenk weiter geht. Die Zeit drängt. Alle wollen nach Hause und den Stress hinter sich lassen. Weihnachten spüren, zur Ruhe kommen

Ein Engel beobachtete aus der kalten Winterluft das irdene Treiben. Aus der Distanz, losgelöst vom Druck des Müssens, Habenwollens und Schmerzes, aber auch der Wärme, Liebe und Freude, an die er sich noch erinnern konnte. Ohne Zeit und Raumgefühl, erfüllt mit den Erinnerungen durch seine Familie konnte er sich auf diese Reise begeben. Sein Bedürfnis sich seinen Lieben zu nähern, war so stark, dass er das ziellose Wandern durch die Unendlichkeit nicht mehr länger ertragen konnte. Die Herzen der Menschen waren verhärtet, sie spürten nicht die Botschaften ihrer Verstorbenen, die sich ihnen nähern möchten, weil sie getrieben wurden, durch das Alltagsleben wie eine Herde Vieh zur Schlachtbank. Es war den Lichtwesen kaum möglich ihre zarten Hinweise an ihre Lieben zu senden an diese verschlossenen Türen ihrer verarmten Seelen.

Er war selbst oft so gewesen als er noch als Mann auf Erden lebte, hatte sich nicht öffnen können für die Signale, die von irgendwo herkamen, die nicht real genug für ihn waren oder die er nicht sehen konnte. Die Realität seiner Lebensführung ließ es einfach nicht zu.

Aber an Weihnachten war plötzlich alles anders. Er fühlte die Nähe seiner Familie so stark wie nie zuvor. Als würden sich auf Erden alle Herzen öffnen und Einlass gewähren. Als würden alle Menschen aufeinander zugehen und sich umarmen. Die Wärme und den Frieden, die sie dabei ausstrahlten, vereinte sich zu einem Bund der Liebe und Vergebung wie ein unsichtbarer Weg, auf dem die Engel hinab gleiten konnten direkt zu ihren Lieben.

Er flog leicht wie eine Feder unsichtbar durch die engen Straßen seiner Stadt. Ließ sich mit den Windböen über die Dächer der Häusermassen tragen, vorbei an seiner Schule, in der er als Kind fürs Leben lernte, zu dem Bürogebäude, in dem er sein Geld verdiente, verweilte kurz an dem Krankenhaus, in dem er geboren wurde und in dem er im Kreise seiner Familie starb, so schnell und viel zu jung. Es zog in hin zu seinem geliebten Stadtpark. Die Wiesen waren mit einer leichten Schneedecke zugedeckt, die Bäume wie mit Puderzucker bestäubt, erstarrt durch den harten Frost, der gestern Einzug gehalten hatte. Wie sehr er diesen Park geliebt hatte, wie viele Stunden er in seinem irdischen Leben dort verbracht hatte, den ersten Kuss erhalten, händchenhaltend spazieren ging, mit der Frau und späteren Mutter seiner geliebten Tochter. Wie eine Möwe knapp über den Wellen des Meeres glitt er über den zugefrorenen kleinen See der Anlage dahin, zog sich dann hoch in die Kälte des Abendhimmels hin zu dem Glockenläuten des Doms, der zur ersten Christmesse einlud.

Der festlich geschmückte Christbaum vor der Kirche ließ ihn innehalten. Dieser herrliche Lichterschein der Tanne erfüllte ihn kurz mit Freuden längst vergangener Gefühle, die sich Weihnachten in sein Herz schlichen. Die Liebe zu seinen Zurückgelassenen überwältigte ihn.

Es war das erste Weihnachten für sie ohne ihn.

Seine Frau würde mit der gemeinsamen Tochter, seinem geliebten Enkelkind und seinem Schwiegersohn feiern. Sie würde den Baum das erste Mal ohne ihn schmücken, mit dem gleichen Schmuck, den sie zusammen vor Jahren gekauft hatten, den Braten und die Knödel herrichten und die Geschenke um den Christbaum verteilen. Nach der Geschenkverteilung würde sie Punsch und selbstgebackene Plätzchen reichen. So wie sie Weihnachten jedes Jahr feierten, früher zu zweit, dann mit der Tochter und später mit deren Freund und jetzt Mann und Enkelsohn. Würde er den Anblick ertragen können, dies alles zu sehen aber nicht dabei sein zu können? Niemanden umarmen dürfen, keine Küsse verteilen, Wangen streicheln. Würden seine Signale ihre Sinne erreichen und ihn bei sich spüren können? Vorsichtig näherte er sich der Straße, in der er so viele Jahre gelebt hatte. Er glitt durch die kalten Hausmauern, erregt und voller Furcht vor seinen Gefühlen und sah seine Familie im gemütlichen Wohnzimmer Weihnachten feiern, genauso wie er es sich ausgemalt hatte in seiner Hoffnung.

Bewegt und stolz beobachtete er seine Familie und ein kurzes Schmerzgefühl durchzuckte ihn, als er Tränen in den Augen seiner Frau sah und seine Tochter den Arm um die Schultern der Mutter legte, und sie liebevoll festhielt. Sein Schwiegersohn packte mit seinem Enkelkind ein Geschenk aus.

Ein tiefer Seufzer durchdrang ihn und die Kerzen auf dem herrlichen Christbaum flackerten leicht. Seine Frau sah durch ihn hindurch und lächelte. Sie spürte seine Anwesenheit, was er fühlte und sein Drang sie zu umarmen, ließ ihn erzittern.

Doch etwas hielt ihn davon ab, forderte ihn auf zurückzukehren, er musste loslassen. Er war schon zu lange hier. Wurde gerufen und er fühlte, dass es gut und richtig war. Noch einmal sah er seiner Frau in die Augen und mit diesem Bild der unendlichen Liebe verließ er lautlos den Raum, flog hoch in die Heilige Nacht, leicht und schwerelos zurück an Gottes Herz.

Eine Geschichte von Barbara Pronnet

 

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