Die Bütt ist weg!
Befindlichkeiten über einen Abend in der Hochheimer Stadtverordnetenversammlung.
Es beginnt damit, dass die gewählten Vertreter am Sitzungsort, dem Kurfürstensaal, vor verschlossener Tür stehen. Dazu die Mitarbeiter der Stadtverwaltung. Für die Amtsleiter oder deren Stellvertreter ist die Teilnahme Pflicht. Die Vorbereitung der Sitzung durch das Präsidium, einem Gremium, dem die Fraktionsvorsitzenden aller in der Stadtverordnetenversammlung angehörenden Parteien vertreten sind, dauert an.
Im Saal sind Stühle für die Menschen dieser Stadt aufgestellt, immerhin drei Reihen. Ein einziger Besucher verirrt sich auf ihnen. Sofort fällt mir Herbert Grönemeyer ein: „Wir wollen keinen Einfluss, wir werden gern regiert“, so der Text in seinem Lied „Luxus“, welches im Jahr 1990 erschien. Der Zeitgeist scheint sich nicht geändert zu haben.
Dazu eine Auszubildende aus dem Rathaus. An deren Gesichtszügen erkennt der geneigte Betrachter, dass der Sitzungssaal nicht der Ort ist, an dem sie gerade gerne wäre. Und unter den Augen der Lehrherren geziemt es sich wahrlich nicht, das Smartphone auszupacken, und sich die Zeit mit dem Schreiben elektronischer Nachrichten angenehmer zu gestalten. Auch das Selfie ist tabu, um das Leid mit anderen zu teilen.
Im rechten Winkel mit Blickrichtung zur Mainzer Straße stehen die Tische und Stühle der Stadtverordneten, geordnet nach Fraktionen. Die Sitzordnung ist politisch neutral gehalten, denn die Ausrichtung der Stühle lässt keine Einordnung, wer nun rechts oder links sitzt. Also keine Gesinnungssitzordnung.
Die Sitzordnung gestattet es nicht, sich der Teilnahmslosigkeit einzelner Stadtverordneter zu vergewissern und das im doppelten Sinne, denn die Anzahl der anwesenden Stadtverordneten bleibt ein Geheimnis. Der Stadtverordnetenvorsteherin ist aus ihrem Eröffnungsvers nicht zu entlocken, wie viele stimmberechtigte Stadtverordnete anwesend sind. Dabei wäre es doch so einfach, das zu verkünden, denn sie kennt die Zahl. Aber die Geburtstage seit der letzten Sitzung werden verlesen. Wieder ein Jahr durchgehalten.
Es folgt das Ritual, die Tagesordnung zu unterteilen. Ein Teil wird ohne Aussprache beschlossen, zu dem anderen ist der Austausch in knappen Sätzen gewünscht, gesprochen ohne Empathie und hörbarer Interpunktion.
Die Unterteilung der Tagesordnung ist nicht ganz sinnfrei, denn schließlich gehen die Details mancher Beschlüsse fremde Dritte nichts an, exemplarisch gilt das für alle Grundstücksgeschäfte. Blöd ist nur, wenn das bürgerliche Interesse einem Tagesordnungspunkt gilt, der nicht öffentlich besprochen wird, obwohl das möglich gewesen wäre. Und zu Hause ist es jetzt gerade so gemütlich.
Dann passiert es: Mit dem ersten Redebeitrag ist es offensichtlich. Die Bütt ist weg! Das so liebevoll bezeichnete Rednerpult fehlt in der Raumausstattung des Kurfürstensaals. Damit ist die Erkenntnis unabweisbar. In Hochheim stehen Stadtverordnete nicht mehr für ihre Überzeugungen auf.
Der Bürgermeister hält seine Haushaltsrede im Sitzen von seinem Platz aus. Sie ist kein rhetorisches Feuerwerk, eigentlich ist sie noch nicht einmal ein Knallbonbon.
Die FWG-Fraktion bemühte sich, einen Antrag zu formulieren und diesen dem Gremium zur Abstimmung zu stellen. Der Fraktionsvorsitzende begründet kurz und artig, natürlich im Sitzen und für den Zuhörer ohne Verrenkung nicht zu erspähen. Es klingt wie eine Stimme aus dem Off. Er sagt, er kann den Antrag vom Platz aus begründen, denn die Begründung sei so kurz. Und nichtssagend ist sie auch. Gut, dass er sitzengeblieben ist.
Nacheinander heben aus den anderen Fraktionen Personen die Hände und teilen sortiert nach einer Rednerliste dem Auditorium mit, dass die jeweilige Fraktion dem Antrag zustimmt. Im Zuhörer reift der Gedanke, den Antrag in die Tagesordnung ohne Aussprache einsortiert, und die Sitzung hätte eigentlich nicht stattfinden müssen.
Die Politik habe sich von den Menschen entfernt, so lautet die vielfach gehörte Beschwerde des Wahlvolkes. Nach einem Abend in der Stadtverordnetenversammlung in Hochheim trifft das nicht nur auf die Bundes- und Landespolitik zu.
Alle werden im März 2021 betroffen sein, zöge denn der Protest mit zweistelligen Prozentanteilen in die neu gewählte Stadtverordnetenversammlung ein. Und keiner der heute gewählten Stadtverordneten wird bei sich dafür die Gründe suchen.
Danke Herr König, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Seit Beginn der derzeitigen Legislaturperiode hat sich die Debattenkultur in der Stadtverordnetenversammlung massiv verschlechtert. Ich kann dies beurteilen, denn seit 45 Jahren besuche ich nahezu jede Sitzung, um mir ein Bild von der Stadtpolitik zu machen. Aber zur Zeit reden die Stadtverordneten alle vom Platz aus. Man kann kaum nachvollziehen wer redet und was gesagt wird.
Ich war auf einigen Sitzungen in diesem Jahr und bin immer dann gegangen, wenn die beteiligten Personen die Mikrophone nicht ordnungsgemäß benutzten bzw. derart nuschelten, dass man im Publikum nichts verstehen konnte. Ich stelle mir heute die Frage: Ist das gar beabsichtigt?
Ich werde jedenfalls nicht mehr zu den ständigen Besuchern zählen.