Die Trauer stirbt

Alljährlich begeht die Bundesrepublik Deutschland nach einer Übereinkunft zwischen der Bundesregierung, den Ländern und den großen Glaubensgemeinschaften am vorletzten Sonntag im Kirchenjahr nach evangelischer Bestimmung, beziehungsweise am 33. Sonntag im katholischen Jahreskreis, den Volkstrauertag. Durch Landesgesetze ist der Tag geschützt. Der Volksbund als bundesweiter Ausrichter versteht diesen Gedenktag auch mit zunehmendem Abstand vom Krieg als einen Tag der Trauer. Der Volkstrauertag ist aber auch zu einem Tag der Mahnung zu Versöhnung, Verständigung und Frieden geworden.

Ursprünglich wurde der Volkstrauertag durch den 1919 gegründeten Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge auf Vorschlag seines bayerischen Landesverbandes zum Gedenken an die Kriegstoten des Ersten Weltkrieges eingeführt. Die Trauer sollte nicht angeordnet sein, sondern als das Setzen eines nicht übersehbaren Zeichens der Solidarität derjenigen, die keinen Verlust zu beklagen hatten, mit den Hinterbliebenen der Gefallenen verstanden werden.

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1934 bestimmten die nationalsozialistischen Machthaber durch ein Gesetz den Volkstrauertag zum Staatsfeiertag und benannten ihn „Heldengedenktag“. Die Träger waren bis 1945 die Wehrmacht und die NSDAP. Die Richtlinien über Inhalt und Ausführung erließ der Reichspropagandaminister. Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde der Volkstrauertag erneut vom Volksbund eingeführt und 1950 erstmals neben vielen regionalen Veranstaltungen mit einer Feierstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages begangen.

Der Volkstrauertag steht, begründet durch die Geschichte seines Entstehens, mindestens in einer deutlichen Distanz zur derzeitigen Generation, welche weder kriegerische Auseinandersetzungen auf deutschem Boden kennt, noch den Verlust naher Angehöriger als deren Folge zu beklagen hat. Die Kriegsgeneration kennen viele nur aus den schamvoll versteckten Bildern in Schwarz-Weiß, welche Großväter in stolzer Pose in Wehrmachtsuniform zeigen. Daher finden sie keinen Zugang zu einem Tag der Trauer, der keineswegs aus der Zeit gefallen ist.

Wie nah durch Waffen ausgetragene Konflikte an unser Land heranrücken, belegen im Ausland stationierte Bundeswehrsoldaten, die unser Land mit dem Krieg und dem Tod verweben. Es darf in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft höchst umstritten sein, ob eine Streitmacht Teil der staatlichen Ordnung sein soll und ob und wie sich diese an Waffengängen außerhalb der Staatsgrenzen beteiligt. Jedoch darf der Respekt vor all denjenigen, die sich mit ihrem Leben für dieses Land einsetzen, diesen nicht verweigert werden. Das gebietet die Würde des Menschen.

Kriege beginnen sich zu anonymisierten Schlachten zu entwickeln, geführt mit modernster Technik. Die Kriegsführenden sind namenlos, denn Drohnen führen keine Namen. Persönlich bleiben die Opfer.

Attentate in den Städten der zivilisierten Gesellschaften, die Unbeteiligte töten, Eltern in tiefe Trauer stürzen, wegen des Verlustes ihrer Kinder, die Fußballspieler aus Angst in ihren Kabinen in Stadien übernachten lassen, beschreiben in bedrückender Weise, dass Leid und Tod andersartig uns erreichen als vor mehr als sieben Jahrzehnten.

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Nicht weniger Anlass zur Trauer gebieten Bürgerkriege, in denen Menschen aus ihrer Herkunft ableiten, über andere herrschen zu dürfen, Andersdenkende oder – glaubende drangsalieren, und ihnen nach dem Leben trachten. Flucht und Vertreibung erleben wir als Folge. Integration umfasst auch die Bereitschaft, sich der Trauer der Geflohenen um ihre Angehörigen als Konsequenz eines Krieges an- und  sie ernstzunehmen.

Der Volkstrauertrag bedarf daher einer neuen, einer zeitgemäßen Sinnhaftigkeit. Auch die in diesem Land lebenden Generationen, die, bewahrt vor Krieg und Tod, in Frieden und Freiheit leben dürfen, verspüren Trauer, Betroffenheit und Mitgefühl für die Menschen, deren Leben sich auf Angst und Armut reduziert, die mitten aus dem Leben gerissen werden, weil Glaubenskriege keine territoriale Beschränkung kennen. Der Volkstrauertrag holt sie in ihrem Mitgefühl nicht ab.

Der Volkstrauertrag bedarf eines zeitgemäßen Formats, mit dem generationenübergreifend die Trauer in Deutschland gelebt werden kann.

Exemplarisch Kindergärten, Grund- und weiterführende Schulen könnten sich aufgerufen fühlen, sich altersgerecht thematisch zu nähern und Trauer in Wort und Bild auszudrücken und zu Gestaltern des Volkstrauertages zu werden. Auch die Konfessionen kennen Trauer als Teil des täglichen Lebens in der Gemeinde und wären wohl vielfältig in der Lage, sich thematisch einzubringen.

Gelingt es nicht, den Volkstrauertag zeitgemäß fortzuschreiben, wird mit dem Aussterben der Generation, die den Volkstrauertag begeht, auch die Trauer aussterben.

 

 

 

 

 

 

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